- Japan: Die Meijireformen 1868 bis 1890
- Japan: Die Meijireformen 1868 bis 1890Erleuchtete Regierung«, zuweilen auch »aufgeklärte Politik«, lautet, je nach Übersetzung und damit verbundener Wertung, die Herrschaftsdevise des japanischen Kaisers Mutsuhito, die ihm mit dem vagen japanischen Begriff Meiji zu Beginn des Jahres 1868 von den neuen Machthabern des Landes nach einer Palastrevolution vorgegeben worden war. Mit seinem Tode 1912 ging die 44 Jahre umfassende Meijizeit zu Ende, in der Japan sich von einem rückständigen, feudalen Staatswesen zur allseits respektierten Führungsmacht in Ostasien gewandelt und vermeintlich den Anschluss an die westlichen Industrienationen geschafft hatte. Meiji-Tennō und Meijizeit wurden rasch zum Inbegriff eines einzigartigen Modernisierungsmodells, das vermeintlich in weiser Voraussicht von einem aufgeklärten Herrscher betrieben und von einem wie eine Familie um ihn gescharten Volk ehrerbietigst durchgeführt worden sei.Die ebenso bewusst geschaffene Ideologie des Kults um den göttlichen Kaiser und die Auserwähltheit des Volks, Japans moderne Mythen, dienten gleichermaßen der Herrschaftsstabilisierung des neu geeinten Staatswesens wie einer neuen, nationalen Identität. Der Kaiser hatte lediglich die Funktion, die Politik der herrschenden Gruppierung zu legitimieren. Wer den Kaiser als religiös-politischen Bezugspunkt der Nation in der Hand hatte, übte die tatsächliche Herrschaft durch den »kaiserlichen Vorhang« aus. In dem Leitbegriff Meiji, der im Sinne der neuen Machthaber am besten mit »erleuchtetes Regieren« umschrieben wird, offenbarten sich Programm und Propaganda jener Samurai, die am 3. Januar 1868 den Kindkaiser Mutsuhito auf den Thron des Herrschers erhoben hatten, um ihn geschickt für ihre neue Politik zu manipulieren. Das Land sollte fortan keinesfalls im westlichen, aufgeklärten Geist regiert werden, sondern lediglich von westlichen Vorbildern »erleuchtet« werden. Dem Regierungswechsel von 1868, allen folgenden Reformen und nicht zuletzt der Verfassung von 1889 lag daher eine antiwestliche Stoßrichtung zugrunde. Von Anfang an strebte die an die Macht gelangte Kriegerkaste alter Herkunft danach, den Westen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und auf diese Weise die angestammte Herrschaft zu festigen und ein Großjapan (Dai-Nihon) in der Nachfolge des vom Westen unterjochten »Reiches der Mitte«, China, als asiatische Führungsmacht zu etablieren.Das Ende des Schogunats (1853—68)Nach jahrhundertelangen bürgerkriegsähnlichen Wirren hatte die erblich gewordene Herrschaft der Familie Tokugawa (1603—1868) dem Land inneren Frieden beschert und durch eine rigorose Abschließung vom Westen dafür gesorgt, dass weder christliche Missionare noch westliche Kaufleute die statisch-harmonische Ordnung störten. Die Regierungsgewalt wurde, nominell im Namen des Kaisers, vom Militäroberbefehlshaber, dem Schogun, ausgeübt. Der machtlose Kaiser residierte als religiöses Oberhaupt des Shintoismus, eines göttlichen Ahnenkults, in der Residenzstadt Kyōto. Die Lehnsherren (Daimyō) bildeten zusammen mit dem funktionslos gewordenen Kriegeradel, den Samurai, die Führungsschicht, die mit etwa 4 bis 5 Prozent der Bevölkerung etwa 420000 Haushalte mit ungefähr 2 Millionen Personen ausmachte. Als reine Konsumentenklasse — waren ihnen doch Handel und Gewerbe untersagt — gerieten die höheren Adelsränge bald in wirtschaftliche Abhängigkeit von den auf der untersten Stufe der gesellschaftlichen Ordnung stehenden Kaufleuten. Die niederen Samurai siedelten meist in den Burgstädten und besserten ihre in Reis ausgezahlten Stipendien durch Verwaltungstätigkeit auf. Diese Schicht sollte in der durch äußere Bedrohung beschleunigten Krise des Schogunats zu Befürwortern eines durchgreifenden politisch-gesellschaftlichen Wandels werden.Die Bauern, die noch im 19. Jahrhundert 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten, rangierten zwar in der gesellschaftlichen Ordnung als einzige produktive Klasse gleich unterhalb der Krieger, wurden jedoch derart durch feudale Abhängigkeiten drangsaliert, dass sie sowohl in der Tokugawazeit als auch im darauf folgenden kaiserlichen Japan als politische Kraft ausfielen. Hingegen strebten die gesellschaftlich deklassierten Kaufleute und die kleine, aber prosperierende Schicht städtischer Handwerker Veränderungen an und bildeten für die unzufriedenen, da wirtschaftlich immer weiter verarmenden Samurai die gegebenen Verbündeten in der Auseinandersetzung mit der erstarrten Schogunatsherrschaft. In der allgemeinen Finanzkrise konnten sich indes einige Territorialfürstentümer (Han), wie die im Süden gelegenen Chōshū und Satsuma, aufgrund von Nebeneinkünften und effizienter Verwaltung gut behaupten. Einst von den Tokugawa militärisch unterworfen, wurden diese beiden Fürstentümer zu Zentren der Opposition gegen den Schogun.Die Öffnung JapansDie innere Aushöhlung des Schogunatsystems und seine äußere Schwäche waren durch die von den Westmächten ausgehende Bedrohung, Japan ähnlich wie China gewaltsam militärisch zu öffnen und wirtschaftlich mithilfe ungleicher Verträge zu kolonisieren, offenkundig geworden, als sich 1853 ein amerikanisches Geschwader der Bucht von Edo unbehelligt nähern konnte und dessen Kommandeur erfolgreich auf Vertragsverhandlungen insistierte. Die ohnehin oppositionell eingestellten Han von Chōshū und Satsuma wurden nunmehr zusammen mit dem vom Schogun übergangenen Hof zu den Wortführern einer fremdenfeindlichen Politik. Unter dem Schlachtruf »Verehrt den Kaiser — vertreibt die Barbaren« sollten mittels einer Machtausweitung des Kaisers die »Langnasen« wieder vertrieben werden. Einer ideologischen Aufwertung des japanischen Kaisers als gottähnlichen, dem Pekinger Sohn des Himmels ebenbürtigen Herrscher hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine historische Richtung (Mitoschule) nachgeholfen. Die Abgeschlossenheit Japans hatte einen Ethnozentrismus genährt, der sich in Visionen von einem großjapanischen Reich und der Besonderheit des japanischen Wesens (kokutai) Bahn brach und besonders in den Kreisen der niederen Samurai begierig aufgenommen wurde.Die Beschäftigung mit westlichem Wissen hatte zugleich einen derartigen Aufschwung genommen, dass die ausländischen Studien in einem eigens geschaffenen »Institut zum Studium barbarischer Bücher« in Edo eingerichtet wurden. Die auf Absetzung des Schogunats drängenden Kräfte strebten daher von Anfang an sowohl eine Reform des politischen und gesellschaftlichen Systems als auch dessen Restauration im Sinne tradierter, mythischer Vorstellungen an. Die inzwischen relativ unabhängig gewordenen Lehnsfürstentümer von Satsuma, Mito und Chōshū nahmen auf eigene Faust eine Erneuerung ihrer Streitkräfte in Angriff, der in Chōshū sogar das Waffenmonopol der Samurai geopfert wurde. Auch das Schogunat setzte nunmehr, wenn auch zögerlich, auf Reformen. Eine Regierungsdelegation bereiste 1862 erstmals Europa und fand dort auch den Weg nach Berlin, wo die Erneuerung Preußens nach den Niederlagen gegen Napoleon I. bei den Japanern einen tiefen Eindruck hinterließ.Doch alle Reformansätze waren zum Scheitern verurteilt, solange die feudale Ordnung nicht aufgebrochen wurde und westlich-kapitalistischen Methoden keinen Raum bot. Das Dilemma der japanischen wie auch schon der chinesischen Modernisierung, den eigenen Geist mit der Technik des Westens verbinden zu wollen, war bereits in der Endphase des Schogunats deutlich geworden. Das Grundproblem sollte auch den zweiten, nach 1868 eingeleiteten Reformversuch begleiten und längerfristig zu dessen Scheitern beitragen.Die Geburt des modernen Japan 1868Die entscheidende Phase im Kampf um die Macht begann im September 1866, als ein numerisch überlegenes Heer des Schoguns bei einer Strafexpedition gegen den Han Chōshū von dessen modernisierten Truppen geschlagen wurde und der Oberbefehlshaber wenige Tage später verstarb. Zwar fand sich nochmals ein Mitglied des Hauses Tokugawa bereit, das Amt des Schoguns anzutreten, aber die Kaiserstadt Kyōto lag den nunmehr verbündeten Truppen von Chōshū und Satsuma offen. Politisch und militärisch versierte Samurai verbündeten sich mit dem alten Hofadel (kuge). Erstes Opfer dieser neuen Hofkamarilla scheint der Kaiser selbst gewesen zu sein, der zu dem von ihm bestallten Schogun hielt und überdies eine weiter gehende Öffnung des Landes ablehnte. Offiziell starb der Kaiser Kōmei an einer Pockenerkrankung, doch wurde er vermutlich auf Betreiben von Iwakura Tomomi, einem einflussreichen Samurai bei Hofe, vergiftet, der sich den minderjährigen Sohn des Kaisers für den Kampf gegen den Schogun gefügig machen wollte. Kabale und Krieg standen bei der Entstehung des modernen kaiserlichen Japan Pate — Hofintrigen und machtpolitische Ambitionen einzelner Militärs sollten es auch bis zum Untergang der Tennoherrschaft 1945 begleiten.In den Morgenstunden des 3. Januar 1868 rückten unter Führung eines militärstrategisch begabten Samurai aus Satsuma, Saigō Takamori, Truppen der rebellierenden Han in den Palast ein und schalteten nach kurzem Geplänkel die Wachmannschaften aus. Noch am selben Tage wurde in einer Erklärung das Schogunat beendet und eine neue Regierung mit allen führenden Köpfen der Aufstandsbewegung unter einem kaiserlichen Prinzen gebildet. An die Stelle der absolutistischen Alleinherrschaft des Schoguns war nicht etwa ein allgewaltiger Kaiser getreten, sondern ein mühsam ausgehandelter Herrschaftskompromiss. Fortan mussten an einer Regierung so viele einflussreiche und gegensätzliche Kräfte wie möglich beteiligt werden, um Rivalitäten und Intrigen innerhalb der jeweils herrschenden Gruppierung auffangen zu können. Unter dem monarchischen Schutzschild bildete sich im kaiserlichen Japan ein Regierungssystem heraus, das seine Legitimation aus Gruppenkämpfen ableitete und keinesfalls vom Volkswillen oder auch nur von programmatischen Überlegungen getragen war.Schwierige Doppelherrschaft — Chōshū und SatsumaDie im Zweiten Weltkrieg dann so manifeste Rivalität zwischen Heer und Marine geht auf diese Doppelherrschaft der beiden Han und ihre unterschiedliche politisch-geographische Stoßrichtung zurück. Stand Chōshū, an der Straße von Shimonoseki und somit Korea gegenüber gelegen, für eine auf das asiatische Festland abzielende kontinentale Politik und Kriegführung, so wurde Satsuma, am südlichsten Punkt (Kagoshima) der südlichsten der japanischen Mutterinseln (Kyūshū) gelegen, zum Anwalt der Marine und eines südwärts gerichteten maritimen Expansionsprogramms. Die Geburtsfehler des modernen Japan bestimmten die weitere Entwicklung und führten letztlich in den Untergang des Jahres 1945.Das politische Grundsatzprogramm wurde mehrfach von den führenden Köpfen der siegreichen Han geändert, bevor sich die Fassung aus dem mächtigen Chōshū durchsetzte. Als Gründungscharta oder Grundgesetz beinhaltete dieser »Fünf-Artikel-Schwur« des Kaisers vom 3. April 1868 die grundlegenden Punkte des zukünftigen Regierungsprogramms.Der Streitpunkt über die Zusammensetzung einer regierungsberatenden Versammlung wurde durch eine vage Kompromissformel von der »Einberufung öffentlicher Versammlungen« verdeckt. Hingegen konnte die Konzentration aller Kräfte auf das nationale Wohl angesichts der äußeren und jederzeit von der Oligarchie politisch instrumentalisierbaren Bedrohung erreicht werden. Der neue, das Volk auf den Kaiser verpflichtende Nationalismus wurde, wiewohl weitgehend künstlich geschaffen, zu einer Integrationsideologie, welche die Schwachstellen des neuen politischen Systems verdeckte. Die postulierte Abschaffung der schlechten Bräuche der Vergangenheit zugunsten einer harmonischen Ordnung von Oben und Unten griff konfuzianistische Vorstellungen auf und diente im Grunde der traditionellen Disziplinierung des Volkes. Diese tradierte Ordnung musste jedoch durch den wohl revolutionärsten Punkt des Programms — »Kenntnisse in aller Welt sammeln« — langfristig infrage gestellt werden. Die Meijireform als interner Machtwechsel innerhalb der Führungsschicht sollte alle Kräfte bündeln, um die angestammte Ordnung gegen die Herausforderung des Westens zu behaupten. Japans Modernisierung war letztlich ein Verteidigungsprogramm.Reformen nach westlichen VorbildernGrundlegende gesellschaftliche Reformen waren von der neuen Herrschaftselite alter Abstammung keinesfalls beabsichtigt. Nicht das Wohl des Volkes stand den in militärischen Kategorien denkenden und handelnden Bürokraten der Han vor Augen, sondern stets die nationale Größe und ihre eigene daran gekoppelte Machtposition. Die Abschaffung der Feudalränge 1872 und des Privilegs, ein Schwert tragen zu dürfen, diente der Martialisierung des gesamten Volkes. Die alte Elite des Landes übernahm weitgehend die neuen Führungspositionen. Ihre Tugenden Kampfgeist, Loyalität und Selbstaufopferung prädestinierten sie geradezu, dem Volk in seiner Gesamtheit mit dem Kaiser an der Spitze zu dienen. Samurai sollten selbstverständlich die Offiziersstellen des neuen, auf dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht basierenden Volksheeres bekleiden und die Kampfesethik des Bushidō, des selbstlosen Einsatzes für den Herrn, nunmehr den Kaiser, auch den männlichen Jugendlichen aus den entlegensten Dörfern vermitteln. Auch die neue akademische Intelligenz, an der 1877 begründeten Tokioter Universität geschult und häufig im westlichen Ausland weitergebildet, rekrutierte sich in der Meijizeit aus der Kaste der Samurai, die eine umfassende geistig-literarische Bildung erfahren hatte.Dieses rückwärts gewandte Wertesystem fand bei der bäuerlichen Bevölkerung die größte Resonanz, da die wirtschaftliche Modernisierung auf ihrem Rücken ausgetragen wurde. Die jungen Männer aus den vielen abgeschiedenen Dörfern kamen durch das immer weiter ausgebaute System der allgemeinen Wehrpflicht mit dem neuen Staat und den vor allem im Militär als Garanten der neuen kaiserlichen Ordnung propagierten nationalen Tugenden in Berührung. Der Militärführer Yamagata Aritomo aus Chōshū wurde zur beherrschenden Figur beim Aufbau einer modernen Armee und ihrer ideologischen Ausrichtung auf den Tennostaat. Das Militär wurde schnell, wie sein preußisches Vorbild, zur Schule der Nation.Wirtschaftliche NeuorientierungFür die Masse der in ärmlichen Verhältnissen und feudaler Abhängigkeit lebenden Bauern verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation mit der Meijirestauration noch weiter. Die 1872 deklarierte Bauernbefreiung, mit der Landverkauf und freie Feldbewirtschaftung legalisiert wurden, leitete ein de facto noch weiter verfeinertes staatliches Ausbeutungssystem ein. In einer Steuerreform wurde die kollektive Haftung und Abgabepflicht der Dörfer gegenüber dem Feudalherren durch eine nunmehr in Geld individuell zu erbringende Steuer abgelöst. Missernten und familiäre Notsituationen führten nun zu einem drastischen Rückgang der Eigenbetriebe und Anstieg des Pachtlandes. Dieses staatlich sanktionierte »Bauernlegen« begünstigte die Großgrundbesitzer, die sich im Laufe der Meijizeit als einflussreiche politische Kraft etablieren konnten, an der bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs alle Agrarreformen scheitern sollten.Aus der im Elend lebenden bäuerlichen Bevölkerung rekrutierte sich ein billiges Arbeitskräftepotenzial für eine vom Staat begünstigte Industrialisierung, die noch um 1900 zu 80 Prozent mit den aus dem Agrarsektor erpressten Steuern finanziert wurde. Die Industrialisierung erfolgte über staatliche Pilotprojekte und nur punktuell in den für staatsnotwendig erachteten Branchen. Die noch heute für Japan typische Struktur eines dualen Wirtschaftsgefüges von Großbetrieben mit von ihnen abhängigen Kleinstunternehmen geht auf die staatliche Intervention der Gründerväter der Meijizeit zurück. Die Konzentration wirtschaftlicher Macht in den bereits bestehenden »zaibatsu«, jenen Familien-Holding-Gesellschaften wie Mitsui oder neu entstehenden wie Mitsubishi, nahm zu. Soziale Sicherungen oder Schutzmaßnahmen am Arbeitsplatz blieben unbekannt, sodass die sozialen Spannungen wuchsen.Für das nationale Aufbauwerk war die aktive Hilfe ausländischer Experten unerlässlich. Insgesamt waren etwa 2400 Ausländer von 1868 bis zur Jahrhundertwende an dem Transformationsprozess aktiv beteiligt. Mit insgesamt 279 Beschäftigten in japanischen Diensten rangierten die Deutschen dabei lediglich auf Platz vier, bekleideten indes häufig einflussreiche Schlüsselpositionen.Auf der Suche nach brauchbaren Vorbildern reiste nahezu die halbe japanische Regierung, meist ehemalige mittlere Samurai aus Satsuma und Chōshū, für fast zwei Jahre durch die Neue und die Alte Welt. Nach den überwältigenden Eindrücken vom technischen Fortschritt des Westens räumten die Reformer der inneren Umgestaltung absoluten Vorrang vor jeder äußeren Expansion ein. Erst sollte das Land wirtschaftlich und militärisch gestärkt sein, bevor die Annexion Koreas vollzogen werden konnte. Diese gewaltsame Expansion auf den asiatischen Kontinent war in der neuen Ideologie von der Auserwähltheit der Japaner fest verankert, nur die Wege und Mittel blieben strittig.Auch der Unmut weiter Kreise über die ihrer Auffassung nach zu weit gehende Verwestlichung des Landes erforderte einen eindeutigen Fixpunkt der gesamten Reformmaßnahmen. Denn die bisherige Übernahme französischer, britischer und amerikanischer Vorbilder wirkte, wie die Reformer bald erkennen mussten, eher destabilisierend. Die erste Phase der Reformen, der Zeitraum von 1868 bis 1881, war von vielen Irrtümern, einem planlosen Herumtasten an westlichen Modellen und ihrer meist blinden Adaption gekennzeichnet. Eine Welle der Re-Japanisierung, die von den konservativen Kräften bei Hofe und im Militär ausging, aber auch von den Aufklärern der ersten Stunde, wie Fukuzawa Yukichi, mitgetragen wurde, begünstigte eine Neuorientierung auf das schon länger insgeheim von den Bürokraten aus Chōshū favorisierte preußische Modell.Die Meijiverfassung 1889Die Wende in der japanischen Reformpolitik zu einer strafferen Ausrichtung auf ein vermeintlich brauchbares Modell ging von der Armee aus und wurde durch die Militärrebellion unzufriedener Samurai in Satsuma begünstigt. Die neue kaiserliche Armee hatte sich unter den französischen Militärinstrukteuren noch nicht zu einem homogenen Verband entwickelt. Die Niederwerfung des von Saigō Takamori geführten Aufstandes mithilfe bunter Heer-haufen, die traditionell auf Einzelführer eingeschworen waren, zog sich daher über neun Monate hin und ließ radikale Reformen in der Armee dringend geboten erscheinen.Hatte Yamagata Aritomo bei seinem ersten Besuch in Deutschland in der Zeit des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 bereits das preußische Militärmodellfavorisiert, sich in Tokio jedoch mit seinen Vorstellun-gen gegen die profranzösische Militärfraktion nicht durchsetzen können, so sah er nach der Niederschlagung des Satsuma-Aufstands seine Stunde gekommen. Yamagata verfolgte zunächst erfolgreich den Plan des ersten japanischen Militärattachés in Berlin, zivile und militärische Gewalt zu trennen. Fortan war der neu geschaffene Generalstab der Weisungsbefugnis des Kriegsministeriums entzogen und wie in Preußen direkt dem Monarchen unterstellt. Yamagata ernannte sich gleich selbst zum Generalstabschef und bestimmte bis zu seinem Tode die Entwicklung des Militärs zum Staat im Staate.Diese vorläufig erst vage vollzogene Reorientierung der nach wie vor von Chōshū beherrschten Armee auf Preußen begünstigte die Entscheidung zugunsten einer halbkonstitutionellen Verfassung nach preußischem Vorbild, in welcher der Sonderstellung des Militärs Rechnung getragen war. Auf Druck des Chōshūflügels wurde schließlich 1881 ein konservativer Verfassungsentwurf unter Federführung von Itō Hirobumi, einem ehedem mittleren Samurai aus Chōshū, aufgesetzt. Itō, der sich gern als »japanischer Hardenberg« apostrophieren ließ, bereiste im Sommer 1882 Europa, um das deutsche Verfassungsmodell vor Ort zu studieren und in Wien, bei Lorenz von Stein, Aspekte der sozialen Monarchie zu erörtern.Die vom Kaiser am 11. Februar 1889 gewährte Verfassung war dennoch keine Kopie der preußischen, sondern trug besonders in den Abschnitten über den Kaiser der spezifischen Situation des Landes Rechnung. Der bis dahin lediglich propagierte Kult um den Kaiser als göttliches Wesen wurde nunmehr verfassungsmäßig festgeschrieben. Er stand als uneingeschränkter Herrscher über dem Verfassungswerk, das daher als kaiserlicher Gnadenakt gegenüber den Untertanen ausgegeben wurde und folglich auch jederzeit zurückgezogen werden konnte. Die Machtfülle des Monarchen übertraf die des deutschen Kaisers beträchtlich. Doch die konstitutionelle Fassade, auf die der Westen als Voraussetzung zur Revision der ungleichen Verträge immer gedrängt hatte, stand und öffnete Japan tatsächlich den Weg in die internationale Staatengemeinschaft.Schulwesen und ArmeeIm Zusammenhang mit der Verfassung musste das gesamte gesellschaftspolitische Leben nach preußischen Vorbildern umgestaltet werden. Die einschneidendsten Reformen betrafen daher die beiden »Schulen der Nation«, die Volksschulen und die Kasernen. Das gesamte japanische Bildungswesen wurde in seiner Struktur dem dreigliedrigen preußischen System angepasst.Ähnliches galt in noch stärkerem Maße für die japanische Armee. Das gesamte Ausbildungswesen hatte der 1885 für drei Jahre ins Land gerufene preußische Generalstabsoffizier Jacob Meckel revolutioniert. Seine militärtheoretischen Schriften über den Einsatz von Linientruppen in Offensivunternehmen wurden auch in Japan beachtet und trugen wesentlich zu den Siegen der japanischen Armee auf dem asiatischen Festland in den Kriegen gegen China (1894/95) und gegen Russland (1904/05) bei.Im Reich des Tenno schloss das am 30. Oktober 1890 verkündete Erziehungsedikt die Phase der Öffnung und Umgestaltung des Landes ab. Im Sinne einer Restauration gewohnter Normen von Ein- und Unterordnung verschmolz die kaiserliche Verlautbarung die fünf konfuzianischen Tugenden sozialer Harmonie mit der dem Shinto entlehnten Ausrichtung des Volkes auf den göttlichen Kaiser als Bezugspunkt des individuellen Lebens wie des Gesamtwohls der Nation. Die Lehre von der Besonderheit des Japanertums war 1890 endgültig formuliert und wurde durch die täglichen Morgenappelle von der Schuljugend auch schnell verinnerlicht. Eine besondere Form des Nationalismus, die Mission des Japanertums und folglich die gewaltsame Aggression in Asien, war in diesem Dokument angelegt. Innere Spannungen ließen sich nunmehr nur noch nach außen ableiten. Kaiserkult und Sozialimperialismus gingen eine verhängnisvolle Symbiose ein.Prof. Dr. Bernd MartinWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Japan: Der Weg zur GroßmachtGrundlegende Informationen finden Sie unter:Japan in der Isolation (1603 bis 1868): Das Schogunat der TokugawaAntoni, Klaus: Der himmlische Herrscher und sein Staat. Essays zur Stellung des Tenno im modernen Japan. München 1991.Hartmann, Rudolf: Geschichte des modernen Japan. Von Meiji bis Heisei. Berlin 1995.Japans Weg in die Moderne. Ein Sonderweg nach deutschem Vorbild?, herausgegeben von Bernd Martin. Frankfurt am Main u. a. 1987.Martin, Bernd: Japan and Germany in the modern world. Providence, R. I., 1995.Pohl, Manfred: Japan. München 31996.Schenck, Paul-Christian: Der deutsche Anteil an der Gestaltung des modernen japanischen Rechts- und Verfassungswesens. Deutsche Rechtsberater im Japan der Meiji-Zeit. Stuttgart 1997.Wagner, Wieland: Japans Außenpolitik in der frühen Meiji-Zeit (1868-1894). Die ideologische und politische Grundlegung des japanischen Führungsanspruchs in Ostasien. Stuttgart 1990.
Universal-Lexikon. 2012.